Das Phänomen, dass jeder Gesprächspartner interessiert zuhört, wenn man einen Filmtitel erwähnt, kann man bei “Shame” gut beobachten. Woran liegt’s? Sex sells vermutlich, denn abgesehen von dem sich in Dunkelziffern bewegendem gesellschaftlichen Problem der Sexsucht bietet dieser Film nichts Herausragendes – ausser eben Bilder, wie sie ebenjene Dunkelziffer der Gesellschaft haben möchte: nackt, unverbindlich, eher eine Fallstudie als eine echte Persönlichkeitsentwicklung. Und ohne Konsequenzen: Die Figuren des Films sind blosse Werkzeuge für die Darstellung von Verhältnissen, es gibt keine Stringenz bei ihrer erzählerischen Umfassung.

Wer einen stillen Kinosaal voller Menschen erleben möchte, sollte sich Shame ansehen. Nach der letzten Szene herrscht eine bedrückte Stimmung unter den Zuschauern. Hat der Film es also geschafft, dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten, in dem es sich selbst erkennen kann? So könnte man es durchaus formulieren. Die Botschaft des Films und seine Erzählmittel sind schwer auf eine Linie zu bringen. Grösstenteils gefällt sich der Regisseur darin, eine uns scheinbar entrückte Lebenswelt darzustellen: perfekt gekleidete Menschen in funktionierenden Jobs, einem funktionierenden Nachtleben mit funktionierenden Mechanismen von Begehren und Annäherung. Fabelhafte Aussichten aus den Zimmern einer kühlen Stadt, die vertrauten Kurven langstieliger Weingläser in den edlen Restaurants eines gehobenen Lebens. All dies sind Dinge, von denen wir wissen, dass sie existieren und von denen wir uns wünschen, dass sie uns umgeben würden. Blickkontakt in der U-Bahn ist eine Rarität geworden im Zeitalter von Smartphones und einem grundsätzlichen Desinteresse der Menschen für ihre Umgebung. Im Film scheinen wir uns in der modernen Welt zu bewegen und doch werden uns funktionierende Beziehungen zwischen Menschen vorgeführt. Brandon kommt mit seinen Arbeitskollegen klar. Er bezahlt eine Prostituierte bei sich zu Hause, ihr Zusammensein ist eine Form von aufgeklärter Dienstleistung, säkulare Romantik. Wir wünschen uns, dass wir mit dem sicheren und ruhigen Blick von Brandon durch diese Welt gehen könnten. Ihren sozialen Untiefen mit Notbehelfen wie der Prostituierten entkommen könnten. Der Film zeigt uns natürlich auch nackte Körper, die auf eine Weise miteinander schlafen, wie wir es uns ebenfalls wünschen: ästhetisch, im Einverständnis, in einer scheinbar natürlichen Frequenz, mit einer naturgegebenen Notwendigkeit.

Dass sich in Brandons Leben einiges anders abspielt, als wir es von unserem eigenen gern hätten, merken wir, wenn sich der Film entfaltet. Die Figur wird uns fremd. Erste Fragen, die wir angesichts seines Umgangs mit der früh auftauchenden Problem-Schwester Sissy stellen, erhalten Bedeutungshintergründe. Warum empfinden die Geschwister keinerlei Scham voreinander? Hat etwas in ihrer Vergangenheit sie sosehr aneinander geschweisst, dass sie in jungen Jahren gemeinsam diese körperliche Ebene aufgesucht haben, als Trost, als Unterschlupf? Etwas in uns sträubt sich gegen die Vorstellung, so einen schamlosen Umgang mit Schwestern und Frauen im Allgemeinen zu pflegen. Brandon wird eisig im Umgang nach der Ankunft seiner Schwester. Seine sexuellen Verausgabungen beruhigen ihn nicht mehr. Die Einblicke in die abgrundtiefe Besessenheit von Brandon können den Zuschauer mehr und mehr schockieren. Aber es ist ein vielschichtiger Film, und gemessen an der Perversion einer Gesellschaft, die solche Filme hervorbringt, muss sich ein Teil des Publikums auch wiederfinden in der Figur von Brandon: Schliesslich ist dieser Film eine Fallstudie über sexsüchtige Männer, die wirklich existieren. Die zwar, den naturgegebenen Gefühlsreflexen sei Dank, angeblich “Shame” empfinden nach der Vollstreckung ihres kranken Übertriebs, aber dennoch immer wieder die Zielgerade von Annäherung-Penetration-Erleichterung abschreiten.

Hat sich der Mensch erhofft, durch die Schaffung eines Übertriebs der Geisselung der menschlichen Existenz zu entkommen? Ist der Übertrieb die Brücke zwischen dem reproduzierenden Menschen und einem Zielindividuum, das die Sexualgefühle ganz abgekoppelt hat von den lästigen biologischen Anhängseln wie Zeugung und Verantwortung? Wenn Brandon in einer späten Szene den Zuschauer direkt anblickt mit seinen entstellten Zügen von präorgastischer Verzweiflung, dann meint man, Nietzsche reden zu hören: «Aber wie geschah mir? So angst mir auch war, -ich musste lachen! Nie sah mein Auge etwas so Buntgesprenkeltes! (…) Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so sasset ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen! Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten! Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch – erkennen! Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt von allen Zeichendeutern! (…) Alles Unheimliche der Zukunft, und was je verflogenen Vögeln Schauder machte, ist wahrlich heimlicher noch und traulicher als eure “Wirklichkeit”. (…) Ja, zum Lachen seid ihr mir, ihr Gegenwärtigen! Und sonderlich, wenn ihr euch selber wundert! Und wehe mir, wenn ich nicht lachen könnte über eure Verwunderung, und alles Widrige aus euren Näpfen hinunter trinken müsste!» Denn in der Begierde, in der Verzweiflung von Brandon erkennt der Zuschauer grösstenteils sich selbst, und seine Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Das eben auch diese Phasen von Extase beinhaltet. Durch die er muss, die ihm scheinbar von andern Kräften dieser Zeit aufgezwungen wurden: von den sexualisierten Magazinen, den Medien, seiner ihm mehr und mehr unbekannten Umwelt, den Kräften um ihn herum, die ihn beklecksen und mit deren Ideen und Vorstellungen er sich schmückt.

So ist dieser Film beiderlei: Nahrung für den Hungrigen, der mehr erfahren will von den Möglichkeiten seiner Spezies, der seinem Übertrieb näherkommen möchte. Und der Film ist Schuldgefühl für den Gesättigten, der schamvoll auf die Teile seiner Rasse blickt, die in ihrem Streben nach körperlicher Lust alles andere aufgegeben haben, selbst die Familie (weil sie mit einbezogen, oder aufgrund von Misshandlungen assimiliert wurde). Dem unentschiedenen Zuschauer präsentiert sich “Shame” als präzise Studie eines Milieus, das von den Massenmedien zwar umkreist wird, dessen Symptome von gesellschaftlichen Codes bedeckt gehalten werden. Ein Milieu, das dennoch in erster Linie von den Medien gegründet und aufrechterhalten wird. “Shame” ist ein guter Film für Berliner. Die Stadt, deren oftmals einzige Hingabe nach Feierabend, womit sich selbst international werben lässt, das schamlose Treiben einer neuen Generation von Kulturlosen ist.

“Shame” bietet Michael Fassbender und die “Drive”-Lady Carey Mulligan, der Film stammt vom britischen Videokünstler Steve McQueen, nicht etwa vom gleichnamigen, legendären Schauspieler und Rennfahrer, der seit mehr als dreißig Jahren tot ist. Insbesondere Fassbender ist ganz bei sich in diesem Film, die Rolle belohnt sein kühles Gesicht und die leicht mechanische Art seiner Bewegung. Der Mann ist ein Verwandlungskünstler, kein schlechtes Merkmal für einen Mimen: bebrillter Hemdenträger unter Cronenberg, Uniform-Kartenspieler bei Tarantino, nun also smarter Durchtriebener in den eisigen Winden der subway. Uneingeschränkte Empfehlung für Anhänger eines harten Geschmacks.

Nebenbei: Eine Userin auf IMDB stört sich am achtlosen Umgang des Drehbuchs seinen Figuren. Die Kommentatorin bemängelt, dass eine Farbige als einzige Frau die sexuelle Begierde des Hauptcharakters nicht hätte stillen können und in den Credits sogar noch hinter irgendwelchen U-Bahnmädchen und Barfrauen erwähnt würde. Diese Darstellerin würde offensichtlich diskriminiert! Was hier aus dem Fokus gerät, ist das schablonenhafte Gefüge der Geschichte. Es geht nicht um Hautfarben und Herkunft, sondern eher um die Zusammenhänge, die letztendlich dazu führen, dass ausgerechnet die farbige, wohlansehnliche Dame zu einem Schlüsselpunkt in der Geschichte wird.