Nach unzähligen Interviews, in denen Lars Eidinger sich als Sexbesessener profilieren konnte, hat er nun seine neue Regiearbeit auf das Publikum losgelassen. Mit “Romeo und Julia” (Erstaufführung am 17.4.2013) hat sich Eidinger an schwere Shakespeare-Kost herangewagt; ein Material also, mit dessen Hilfe er sich als latent exzessfreudiger Schauspieler (in “Hamlet”, seit 2008) eine größere Bekanntheit erspielen konnte. Wie auch in der Inszenierung von Thomas Ostermeier setzt Eidinger auf geballte elektronische Musik, etwas Slapstick und viel Flüssigkeit. Dabei wird er aber dem dramatischen Gewicht des Stücks nicht gerecht.
“The Echo Vamper” ist eine britisch/dänische New-Wave Band, die schon auf der letzten Schaubühne-Party im Februar 2013 auf Einladung von Eidinger hin aufgetreten ist. Bei “Romeo und Julia” dominiert das Duo die Bühne; ihre bewegliche Konzertplattform steht mal mittig, mal am linken Rand, aber immer sind die beiden Musiker zu sehen, wie sie sich an ihren Instrumenten bewegen wie Schlangenmenschen, oder einfach nur im Sitzen Zigaretten rauchen, wenn sie Pause machen. Die restliche Besetzung muss notgedrungenermassen hinter dieser Omnipräsenz zurückbleiben, auch wenn fingierte Backstagebereiche mit Schminktischen und Lümmelsesseln rechts und links vom zentralen Guckkasten eine ständige Sichtbarkeit der Figuren bewirken. Die Musik des Duos ist anfangs stimmig, die Körperakrobatik der Sängerin nervt aber schnell. Die Songs sind oft schrill und mit verzerrtem Gesang, was zunächst übermächtig wirkt, dem Schauspiel nicht angemessen ist und von ihm ablenkt. Später wird sich die Musik auf ein Nebenherplätschern eingeschossen haben.
Schauspielerisch und mit Inszenierungsideen setzt das Stück von Anfang an auf Eidingersche Innenansichten. Die Figuren sind überdreht mit einem Hang zum sexuell Wahllosen, die Bühne sieht aus wie aus dem Baukasten und wird von immer neuen Konfettiregen, Kunstnebeln, Schwarzlichtszenen und Tanzeinlagen heimgesucht. Auf dem Höhepunkt des ersten Teils, als die Party bei den Capulets steigt (die Gastgeberin im krakenartigen Vagina-Kostüm), verbinden sich die trashigen Elemente der Inszenierung zum einzigen Mal zu einer wahrhaft traumartigen Szene, während derer das Geschehen nur als platonisches Schattenspiel auf einem gelben Vorhang sichtbar ist, die Musik stampft gedämpft im Vier-Viertel, wabernder Nebel steigt aus dem Pulk auf, und vor dem Vorhang steht ratlos der schmächtige Romeo (Moritz Gottwald) im roten Kleid. Dessen Figur zeigt als einzige eine gewisse Jugendlichkeit und Resistenz gegenüber der schnell über das Entertainment-Ziel hinausschiessenden restlichen Truppe. Ein besonders schwieriger Fall ist die Amme/Thybault (wie immer feist: Sebastian Schwarz), die mit Nackteinlagen von vorn und hinten sowie Begrapschen aller Hauptfiguren aufwarten kann. Während also die Stimmung für einmal etwas Eindringliches erhält und sich der Zuschauer mit Romeo fragt, wie er die lasziv im Nacktoverall tanzende Julia (wenig mehr als ein One-liner: Iris Becher) herumkriegen kann, geht der Vorhang auf und die Erwähnte tritt heraus, doch anstelle eines romantischen Zwiegesprächs geht der Wahnsinn weiter, der endlos feixende Mercutio (Tilman Strauß) erzählplappert das Geschehen und die unvermeidliche Amme mit Wasserstoffperoxidperücke speit Kassettenbänder.
Wenig später wiederholt sich selbiges – als Romeo bei Bruder Laurence Rat über das weitere Vorgehen einholen will, sinniert dieser mit beachtlichem Bass: “Geschenk heißt auf Englisch gift“, nur um kurz danach wieder ins Krächzen zu verfallen, ins Herumhumpeln, Bühnenwand anpinkeln und – wir haben es kommen sehen – Schniepel zeigen. Als dann die aufwendige elektrische Steuerung bei einer Sterbeszene den Geist aufgibt (deus ex machina im wahrsten Sinne des Wortes) und ein hilfloser Techniker von links hinten “Hilfe, mein Laptop hat sich aufgehängt” ruft, ist die Sache gegessen. Eidinger herrscht die Leute an, sie sollten mal für fünf Minuten den reboot abwarten; ein hilfloser Alt-Hipster vor dem Scherbenhaufen seines mashups. Doch auch die herbeigesehnte Schlussszene kann die Geschichte nicht transportieren, Leidenschaft war nicht vorgesehen für die blasse Julia und Romeo mit dem Brechanfall. Es wurde nach Regieanweisung das Gift genommen, es gab ein kurzes Erschrecken seitens Julia, dann nahm sie artig den Gummischlauch, aus dem das Kunstblut kommen soll, und stieß sich den Dolch zwischen Oberarm und Brust. Den Rest erledigte Bruder Laurence, der “backstage” die Flüssigkeit pumpte. “Mann ich sterbe!”, rief einst Eidinger, als Fortinbras im fünften Akt einrückte, der Dänenprinz das Gift aber schon getrunken, die Waffen gestreckt hatte. Solche Emotion hätten wir uns in diesem Stück auch gewünscht, hier war alles Sterben bloß Dienstanweisung.